Die Eiweißfrage

Das Eiweiß ist der Stoff, in dem sich das Leben verkörpert. Nur im Eiweiß kann sich Leben bilden. Diese Bedeutung liegt auch dem Wort „Protein“ zugrunde, das von dem griechischen „protos“ abgeleitet ist und so viel wie „das Erste“ bedeutet. Udo Renzenbrink* schreibt: „Das Eiweiß befindet sich am Anfang eines jeden Menschenlebens; denn die weibliche Eizelle ist ein Eiweißklümpchen.“* Justus Liebig bezeichnete das Eiweiß als die plastizierende oder gestaltbildende Substanz für alles Lebendige. So ist das Eiweiß diejenige Substanz, in der sich im irdischen Leben die Organe und der ganze Körper*2 ausformen.

Jeder Mensch besitzt seine eigene einzigartige Eiweißstruktur, die er mit keinem einzigen anderen Menschen gleich hat. Bis in den Eiweißaufbau hinein drückt sich die Verschiedenartigkeit der abermillionen menschlichen Wesen aus. Die Lebens- oder Ätherkräfte, die hinter jedem menschlichen Leben walten und mit dem persönlichen Schicksal und Seelenleben verbunden sind, bewirken auch die zugehörige individuelle Eiweißstruktur.

Damit diese vielfältigsten Gestaltungen möglich sind, liegen den Eiweißen verschiedene Bausteine zugrunde, die sogenannten Aminosäuren. Je nach Kombination der Aminosäuren und Anzahl der Verbindungen entstehen die unterschiedlichen Eiweiße. Im menschlichen Körper finden sich 20 dieser Aminosäuren, wovon acht davon nicht selbst gebildet werden können. Sie werden auch als essentielle Aminosäuren bezeichnet und müssen mit der Nahrung aufgenommen werden.

An der Notwendigkeit, diese von außen aufzunehmen, entzündet sich vor allem die kontroverse Diskussion über pflanzliche und tierische Proteine. Sie lässt immer wieder Unsicherheiten darüber aufkommen, ob man genügend Eiweiße zu sich nimmt, vor allem, wenn man sich vegetarisch oder gar vegan ernähren möchte. Sie betrifft aber auch die heute fast größere Gefahr einer Eiweißüberernährung. Denn es ist durch viele Studien belegt, dass das Ansteigen von Arterienverkalkung, Herzinfarkt und Sklerose parallel mit dem ansteigenden Fleischkonsum und damit erhöhter Eiweißaufnahme einhergeht.

Die Angaben über den täglichen Eiweißbedarf sind jedoch sehr unterschiedlich. Ralph Bircher schreibt, dass es Völker gibt, die nur 15-20g Eiweiß pro Tag zu sich nehmen und trotzdem gesund und kräftig sind. In der Vergangenheit wurde der Eiweißbedarf mit über 1g/kg Körpergewicht sehr hoch angesetzt. Nach Versuchen im Max-Plank-Institut in Dortmund liegt das Minimum bei 0,4g – 0,6g/ kg Körpergewicht.*3 Damit man nun zu einer eigenständigen Einschätzung und Entscheidung darüber finden kann, wie viel Eiweiß sinnvoll ist zu essen, ist es hilfreich ein umfassenderes Bild und Verständnis über das Eiweiß aufzubauen.

Alle Eiweiße stammen aus der Pflanzenwelt. Selbst so große Tiere wie die Elefanten bekommen die Proteine, die sie für den Aufbau ihres Körpers benötigen, von pflanzlichen Eiweißen. In den Pflanzen entstehen ebenso alle essentiellen Aminosäuren, die für den Menschen unabdingbar sind. In den Tieren wird mit den pflanzlichen Eiweißen die tierische Substanz, also das Fleisch aufgebaut. Dieses besteht, wie auch der menschliche Körper, hauptsächlich aus Proteinen und aufgrund der geballten Eiweißkonzentration, also der quantitativen Mengenunterschiede zu den Pflanzen, wird von wissenschaftlicher Seite vielfach die Notwendigkeit des Fleischkonsums begründet.

Die Qualität der Eiweiße bleibt dabei aber außer Acht. Udo Renzenbrink schreibt dazu: „Vielfach wichtiger als die Frage der Menge des Eiweißbedarfs ist aber die der Qualität. Hier geistert immer noch der Irrtum durch die Literatur, pflanzliches Eiweiß sei minderwertiger als das tierische. ….. Die Qualitätsfrage ist vor allem eine Frage des Anbaus. Damit sich eine so lebendige Substanz wie das Eiweiß in der Pflanze bilden kann, muss die Humusschicht des Bodens lebendig sein. Der chemische Dünger belebt aber den Boden nicht, sondern wirkt wie eine Nährsalzlösung treibend auf die Pflanzen. Auf diese Weise wird die Eiweißqualität in unseren Feldfrüchten minderwertig.“4 Weiter weist er darauf hin, dass man deshalb von biologisch-dynamisch gezogenen Produkten nur eine geringere Menge benötigt, um den Eiweißbedarf zu decken.

Bedeutend ist auch, wie die Eiweiße im menschlichen Körper verwertet werden können, denn um menschliche Proteine aufbauen zu können, müssen alle acht essentiellen Aminosäuren vorhanden sein. Da Fleisch in dieser Hinsicht vollständigere Eiweiße liefert, als die einzelnen Pflanzen, wird daraus häufig abgeleitet, dass es unerlässlich sei, Fleisch zu konsumieren. Nun können aber verschiedene Eiweißträger kombiniert werden und sich gegenseitig aufwerten.

Weizen und Milch, Reis und Bohnen, Ei und Kartoffeln, Mais und Bohnen oder Brot und Sonnenblumenkerne beispielsweise, ergeben kombiniert eine höhere Wertigkeit, als sie bei Fleisch gegeben ist. Mit Wertigkeit ist dabei gemeint, wie viel menschliches Eiweiß tatsächlich aus den Eiweißen, die mit der Nahrung aufgenommen werden, aufgebaut werden kann. Werden die Speisen abwechslungsreich mit den vielfältigen Gemüsen, Getreide, Obst, Ei, Hülsenfrüchte und Milchprodukten zubereitet, so können alle essentiellen Aminosäuren ausreichend aufgenommen werden und auch bei vegetarischer Ernährung wird kein Mangel zu befürchten sein. Sogar bei veganer Ernährungsweise ist dies möglich, wenn auf eine vielfältige und sorgfältige Zusammenstellung geachtet wird. Es kann noch erwähnt werden, dass bei vegetarischer Ernährung sich eine Sensibilität für den Eiweißbedarf entwickelt, da der Körper nicht mit Eiweißen übersättigt ist. Sind einmal mehr Eiweiße notwendig, dann wird man dies ganz natürlich bemerken und eiweißreichere Nahrungsmittel bevorzugt auswählen.

Die vielen Untersuchungen über die Frage nach zu wenig oder zu viel Eiweiß in der Nahrung sind sehr stark den einzelnen Substanzen gewidmet und richten sich vorrangig auf das körperliche Bezugsfeld aus. Das Eiweiß als Lebensstoff kann darüber hinaus in weiteren Zusammenhängen betrachtet werden, die die Beziehung zum Bewusstsein des Menschen und die mehr seelisch wirkenden Qualitäten berücksichtigen.

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* Dr. Udo Renzenbrink (1913 – 1994) war Arzt in Deutschland und hatte sich ausgehend von den Gedanken von Rudolf Steiner ganz auf die Ernährung spezialisiert und sein ganzes Leben dem Forschen auf diesem Gebiet gewidmet. 1970 gründete er den Arbeitskreis für Ernährungsforschung und 1977 das „Haus der Ernährung“, ein eigenes Seminar- und Forschungsinstitut in Unterlengenhardt bei Stuttgart.

Literatur von Udo Renzenbrink:
Ernährung unserer Kinder – Gesundes Wachstum, Konzentration, Soziales Verhalten, Willensbildung“, S. 28, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart“
Die sieben Getreide
– Nahrung für den Menschen”, S. 27, Rudolf Geering-Verlag, Goetheanum, Dornach, Schweiz

*2 Der menschliche Körper besteht zu etwa 16% aus Eiweiß, 16% Fett, 60% Wasser, 8% übrige Bestandteile.

*3 „Über die Höhe des Eiweißbedarfs, insbesondere des Kindes ist man sich in wissenschaftlichen Kreisen wenig einig. „Wohl keine Zahl in der Ernährungsphysiologie ist so unsicher und findet so extreme Verfechter wie die des Bedarfs des menschlichen Organismus an Eiweiß“ (A.Fleisch)6. Meist setzte man den Eiweißbedarf zu hoch an und forderte mindestens 1 g Eiweiß pro kg Körpergewicht. Diese Forderung ist stark überhöht. Nach Versuchen am Max-Plank-Institut in Dortmund liegt der minimale Bedarf zwischen 0,4 und 0,6 g Protein pro kg Körpergewicht7. Rlaph Bircher berichtet von Völkern, die nur mit 15-20 g volle Gesundheit und einen prächtigen Muskelbau entwickeln9. Es wird meist nur von einem Minimum gesprochen und das Optimum nicht beachtet, das heißt die Menge, die der Organismus verwerten kann, ohne dass belastende Reste im Stoffwechsel bleiben. Das Überschreiten des Optimums ist eine der Hauptursachen für die Sklerose (s. S. 12).“

*4 „Die statische Kraft eines Getreidehalms können wir uns vergegenwärtigen, wenn wir das Verhältnis von Höhe und Durchmesser betrachten. Bei einer Höhe von 1,20 Meter und einem Querschnitt von 4 Millimeter errechnen wir eine Zahl von 300:1. Konkret auf bauliche Verhältnisse übertragen: Stellen wir uns einen Turm von 1 Meter Dicke und 300 Meter Höhe vor. Es wäre absurd, anzunehmen, ein Architekt könnte ein solches Bauwerk errichten. Dabei sind die Zahlen sehr zurückhaltend gewählt. Ein Roggenhalm kann gut 1,80 bis 2 Meter hoch werden. So erhalten wir Werte bis zu 500:1 und mehr. Ein Weiteres noch: Der Halm trägt mit der Ähre das Vielfache seines Gewichtes. Denken wir an diese unvergleichliche Kraft, wenn sich die Halme mit den Ähren im Winde wiegen!“
aus: Udo Renzenbrink, „Die sieben Getreide – Nahrung für den Menschen“, Rudolf Geering-Verlag, Goetheanum, Dornach, Schweiz